Sommerschnee

Er ist da, und wie... der Sommerschnee
Eine Häxligeschichte
Im Hexenhäuschen sieht es aus, als ob es geschneit hätte. Weisse Büschel fliegen durch die Luft und bedecken den Boden. Sie verfangen sich in geheimen Spinnennetzen und sammeln sich in dunklen Ecken. Es ist die Zitterpappel, die ihre Samen auf die Reise schickt. Dieses Phänomen, Sommerschnee genannt, wiederholt sich jedes Frühjahr und dauert ein paar Wochen.
Im Hexenhäuschen steht der Staubsauger Allzeit bereit, denn wegräumen lohne sich nicht, sagt Häxli. Was aber nicht heisst, dass er jetzt häufiger zum Einsatz kommt.
Wenn dann die Sommerschneemenge ein gewisses Übermass angenommen hat, Momo die fliegenden Büschel überall verteilt und Fee von Niesanfällen heimgesucht wird, packt Häxli wortlos den Staubsauger und saugt durchs Häuschen.
Sie schiebt sich gerade halb unter das Sofa, um in die hinterste Ecke zu gelangen, als ein klapperndes Geräusch das Staubsaugerrohr hoch scheppert.
Häxli kriecht hervor, rappelt sich auf und schaut Fee fragend an: „Was war jetzt das?“
„Hm, das klang nach etwas Metallischem. Hast du einen Knopf verloren? Oder ist dir eine Münze unters Sofa gerollt!“ Fee guckt entspannt von ihrem Katzenbaum herab.
„Nein, alle Knöpfe sind noch da, und zuhause brauche ich kein Geld.“
„Tja, pfff, dann weiss ich jetzt auch nicht.“ Fee beginnt genüsslich an ihren Krallen zu knabbern. Aber noch bevor sie mit der ersten Pfote fertig ist, schreckt sie ein Schrei auf. Sie schaut ärgerlich zu Häxli, die noch immer vor dem Sofa kniet.
„Warum zum Teufel schreist du hier so angefressen herum? Ungesund ist das, so aus seiner Tiefenentspannung heraus gerissen zu werden. Jetzt rast mir mein Herz bis zu den Ohren, und der Puls ist bestimmt über zweihundert. So ein verantwortungsloses Benehmen! Wegen eines blöden Knopfes riskierst du meine Gesundheit.“ Fee kann sich kaum erholen. Entrüstet tippt sie an die Stelle, wo sie ihren Puls vermutet, und wackelt zählend mit dem Kopf mit.
„Fee lass das Theater!“
„Was Theater? Hier geht es um Leben oder Tod. Bin ja auch nicht mehr die Jüngste, da muss man aufpassen.“
„Pass du lieber auf, wenn du auf dem Dach herumturnst."
"Du brauchst jetzt gar nicht an mir rumnörgeln."
"Entschuldige liebe Fee! Aber ich befürchte, das Geschepper war mein Ring. Den habe ich doch gestern getragen und jetzt ist er nicht mehr an meinem Finger.“
„Der wird dir schon nicht während des Staubsaugens vom Finger gefallen sein.“
„Nein, aber ich spiele doch manchmal an ihm rum, drehe ihn hin und her und mache so Dinge mit ihm. Vielleicht ist er mir da vom Finger gefallen.“
„Was für Dinge?“
„Ja halt so Dinge, Ring abziehen und wieder anziehen und so…“
„Aha, und warum machst du sowas? Warum lässt du den Ring nicht einfach da wo er ist?“
„Damit du blöd fragen kannst.“
"Du nörgelst schon wieder..."
"Sei du nicht so empfindlich..."
„Also du hättest doch bemerkt, wenn dir der Ring vom Finger gerollt wäre. Ganz so verpeilt bist du dann doch wieder nicht.“
„Danke! Aber da hast du wahrscheinlich recht. Ich habe ihn bestimmt abgezogen und auf den Tisch gelegt. Und dann hat garantiert eines von euch Katzenweibern damit gespielt und ihn unters Sofa gekickt.“
„Oh, was für eine haltlose Unterstellung! Ich mache sowas nicht… nicht mehr. Das muss Momo gewesen sein! Aber da bist du auch selber schuld. Ein Ring gehört eben anständig versorgt, und nicht einfach irgendwohin gelegt. Besonders nicht, wenn man mit einer Momo zusammenwohnt.“
Momo, die die ganze Szenerie fragend beobachtet hat, hört ihren Namen und verkriecht sich vorsorglich hinterm Schrank.
„Nun gut, der Ring ist ja nicht von der Welt, der ist jetzt eben im Staubsaugerbeutel. Und solange du denn nicht wegwirfst, ist er da bestens aufgehoben."
"Ja spinnst du jetzt?" Häxli schaut Fee verärgert an.
"Dann schneid ihn auf und guck nach.“
„Das graust mich aber. Könntest nicht du...?"
„Nein, sorry, ich hab mir jetzt gerade die Krallen gemacht.“
Häxli holt murrend einen Kehrrichtsack und eine Schere. Dann nimmt sie den Sack vorsichtig aus dem Staubsauger, stellt ihn auf den Abfallsack und schneidet ihn mit angewiderter Miene auf. Mit spitzem Zeigefinger nestelt sie im staubigen Inhalt herum. Zuerst sind da nur Fellbüschel, Haare und trockene Blätter, vielleicht auch die eine oder andere Spinne, aber daran denkt Häxli jetzt lieber nicht. Doch dann stösst sie auf etwas Hartes.
„Ich habe ihn!“ jubelt Häxli. Sie gräbt energisch weiter und zieht ein Glöckchen aus dem Staubgewimmel. Momo die interessiert hinter dem Schrank hervorgeguckt hat, erkennt das Glöckchen wieder und zieht sich rasch hinter den Schrank zurück.
„Das ist ein Glöckchen vom Weihnachtsbaum. Wie kommt das denn unters Sofa?“
Dann stürmt sie ins Badezimmer. Da liegt er, der Ring, fein säuberlich im Schmuckschälchen.
„Da ist er ja! Fee wie kommst du nur darauf, dass ich meinen Ring eingesaugt habe?“
„Was ich! Das war deine Idee. Ausserdem sprach ich von Knopf oder Münze, niemals von deinem Ring. Aber eine Frage spukt mir jetzt doch durch den Kopf: Warum hast du nicht vor dem Staubbeutel Gemetzel im Badezimmer nachgesehen?“